Nach der Veröffentlichung des Artikels „Zum Wert-Prinzip in der psychotherapeutischen Wortwahl“ (Report Psychologie, 1/2019) habe ich neben Lob auch die Rückmeldung bekommen, dass das gezeigte Modell nicht den aktuellen Stand der TA-Theorie wiedergäbe. Es ging um das Funktionsmodell der Ich-Zustände, das ich in meinem Artikel verwendet habe (siehe Grafik).
Grafik: Funktionsmodell der Ich-Zustände nach dem Wertprinzip
Der betreffende Kollege schrieb, dass in dem Modell schon „seit langem“ „plus“ und „minus“ unterschieden werden – also ein kEL-plus und ein kEL-minus, ein nEL-plus und ein nEL-minus. Er brachte folgendes Beispiel: Das kEL-plus sagt nicht „Du bist nicht Ok“ sondern “du bist OK und ich bin OK und ich fordere von dir, dass du mit drei Promille kein Auto mehr fährst.
Intuitiv konnte ich dem Kollegen nicht zustimmen. Das von ihm bevorzugte Modell schien mir schon immer in der Praxis nicht zu funktionieren. Und um den aktuellen Stand der TA-Theorie zu prüfen, habe ich mich auf die Suche begeben, deren Ergebnisse ich hier nun vorstelle.
Das von meinem Kollegen beschriebene Funktionsmodell mit „minus“ (-) und „plus“ (+) wurde während meiner TA-Ausbildung parallel zu dem von mir erwähnten Modell vorgestellt – als eines der Funktionsmodelle, die die Manifestationen der Ich-Zustände im aktuellen Denken und Verhalten darstellen (weitere Modelle sind bekannt). Für meinen oben genannten Artikel, in dem es um die Idee des Wert-Prinzips ging, wählte ich bewusst das Funktionsmodell ohne „+“- und „-“-Aspekte, da es sich in der praktischen Arbeit bewährt hat. Durch seine scheinbare Schlichtheit ist es für Patienten schnell verständlich und nachvollziehbar und es hilft, ein individuelles oder kommunikatives Problem zu identifizieren und zu beseitigen. Das Funktionsmodell mit „+” und „-” schien mir methodologisch nie richtig sauber zu sein. Im Gegenteil, es warf immer wieder Fragen auf:
- Wie lautet die Definition des Kritischen-Eltern-Ichs im Rahmen des Funktionsmodells mit „+” und „-“? Beschädigt das „+“ nicht gar den Begriff selbst und damit das ganze Modell?
- Was ist genau der praktische Vorteil des Funktionsmodells mit „+“ und „-” im Vergleich zum ursprünglichen Funktionsmodell?
- Wenn jemand eine Kritik ausübt und damit eindeutig abwertend wirkt, aber behauptet, dass er es gut meint und aus dem „positiven Kritischen-Eltern-Ich“ handelt, beobachten wir dann nicht genau das, was wir in der Emotionalen Kompetenz unter Retter-Rolle und stroke economy verstehen? (Wohlgemerkt, eine konstruktive Kritik oder eine schützend-kontrollierende Handlung kann auch authentisch, d.h. Machtspiel-frei sein; wenn diese nämlich vom Nährenden-Eltern-Ich zusammen mit dem Erwachsenen-Ich ausgeübt wird.)
- Ist es nicht unnötig verwirrend, positive und negative Aspekte den Konstrukten beizufügen, die per Definition bereits als eindeutig negativ und positiv konzipiert wurden? So eine „Verfeinerung“ widerspricht einem anerkannten wissenschaftlichen Prinzip – dem Prinzip der Parsimonie, bekannt als Ockhams Rasiermesser: Wenn ein Phänomen mit A, B und C zu erklären ist, ist es kontraproduktiv, auch noch D etc. dazu verwenden.
Aber auch wenn mir dieses Funktionsmodell nicht praktikabel erscheint – stimmt es, dass es den aktuellen Stand der TA-Theorie wiedergibt?
Bei Google hat mir die Suchanfrage „Transaktionsanalyse Funktionsmodell“ 1.240 Ergebnisse gebracht. In der Bilder-Suche bekam ich unter den Funktionsmodellen nur zwei mit „+“ und „-” angezeigt, der überwiegende Rest zeigte das von mir bevorzugte Funktionsmodell.
Dann habe ich meine alten TA-Konspekte rausgesucht und durchgeschaut. Das Funktionsmodell mit „+“ und „-“ war von mir im Jahr 2003 skizziert worden, aber ohne weitere Erläuterung.
Anschließend habe ich meine TA-Bibliothek durchgearbeitet – und das Modell mit „+“ und „-“ nicht gefunden. Ich habe Kontakt mit meiner alten TA-Lehrerin aufgenommen und sie gefragt, woher dieses Modell stamme. „Von Berne“, war ihre Antwort. Noch einmal habe ich Bernes Schriften durchgesehen – keine Spur davon zu finden. There must be a glitch in this Matrix, dachte ich.
Dann habe ich endlich in dem klassischen Textbuch von von Stewart und Joines (sowohl in der englisch Erstausgabe von 1987 als auch in der russischen Übersetzung von 1996) die Zeile gefunden: „Some TA writers distinguish positive and negative subdivisions in each of these parts of the Parent.“, ohne Abbildung des Modells mit „+“ und „-“ – und ohne Urheberschaft.
In einer ITAA-Forum-Diskussion im Jahr 2010 hat Claude Steiner einen TA-Kollegen zu dem Modell die Frage gestellt: „By the way, what is the origin of the label: Positive Controlling Parent? Who first used it? How is it defined?“ Die Antwort kam von zwei TA Kollegen – von John Parr aus Großbritannien und von Steve Karpman – und lautet: das Modell stammt von Taibi Kahler, einem amerikanischen TA-ler (geb. 1943). Bingo.
Der Name Taibi Kahler ist mir seit Zeiten meiner TA-Ausbildung bekannt. In der organisatorischen TA, in dem Taibi Kahler tätig war, ist das Modell mit „+“ und „-“ möglicherweise ein brauchbares Modell, das soll hier nicht beurteilt werden. In der psychotherapeutischer Praxis hingegen ist die Argumentation von Claude Steiner methodologisch und praktisch am saubersten:
„I have chosen, arbitrarily, to define the CP as opposed, and therefore harmful to love and cooperation, and that there is no possibility for the CP to be positive“
„To the argument that “Don’t touch that” as a child crawls to an electric wire is Positive CP, I say: that depends on the tone of voice and emotion of the statement.“
Das scheinbar „simplere“ Funktionsmodell befreit den psychotherapeutischen Prozess geradezu, es macht ihn „ermächtigend“. Es ist nämlich nicht nur wichtig, sondern notwendig, einen eindeutig ungewünschten intrapsychischen Konstrukt zu separieren und zu definieren – um ihn rechtzeitig zu reflektieren und um mit ihm bewusst anderes umgehen zu lernen. Dieses Introjekt – das Kritische-Eltern-Ich – ist die Quelle und der Verursacher aller Machtspiele, aller unserer unauthentischen Handlungen, aller Drama-Dreieck-Rollen und der entsprechenden Gefühle. Das Kritische-Eltern-Ich ist die „Verkörperung“ der stroke economy selbst – der Vorstellung, dass Liebe ein knappes Gut sei. Gegen diesem Glaubenssatz lernen wir gerade innerhalb Emotionaler Kompetenz nach Claude Steiner bewusst angemessen zu agieren.
Wenn wir dieses Konstrukt nicht eindeutig definieren, schaffen wir selbst die Voraussetzungen für mögliche Missverständnisse und auch für einen Machtmissbrauch subtiler Art. Man kann behaupten, dass „Du bist OK und ich bin OK und ich fordere von Dir, dass Du mit drei Promille kein Auto mehr fährst“ aus dem kEl+ kommt. Eine andere Option ist, die Worte und den Ton zu finden, um sich authentisch und auf Augenhöhe auszudrücken – dafür braucht man das Nährende Eltern-Ich zusammen mit dem Erwachsenen-Ich, zum Beispiel: „Ich mache mir Sorgen um deine Sicherheit; triffst du eine richtige Entscheidung oder möchtest du, dass ich dir dabei helfe?“
Die schützende Haltung der Verantwortlichen ist in jeder Gruppentherapie notwendig, da es um individuelle Sicherheit geht. Wenn das Kritische-Eltern-Ich als Introjekt nicht erkannt bleibt, entstehen unvermeidbar Missinterpretationen, emotionale Übergriffe und Konflikte innerhalb der Kommunikation. Wenn ein Leiter, eine Leiterin selbst möglicherweise nicht schützend genug agiert und behauptet, dass er/sie aber aus dem „positiven Kritischen-Eltern-Ich“ handeln würde, dass es also so sein müsse … ist es tatsächlich nur antitherapeutisch und iatrogen.
Die klare Aufteilung des Eltern-Ichs auf nur zwei gegensätzliche Teile war für Steiner zentral: er hat sich dazu in seinen Schriften und in den Diskussionen mehrmals unzweideutig geäußert. Steiner war im bestem Sinne kompromisslos, was den Umgang mit dem Kritischen Eltern-Ich als der Quelle der stroke economy betrifft. Wenn wir gerade diese essentielle Sichtweise nicht übernehmen, steht die ganze Methode der Emotionalen Kompetenz auf wackligen Beinen – nicht kohärent genug, versehen mit einem inneren Widerspruch. Mit Claude Steiners Kompromisslosigkeit unterscheidet sich die Emotionale Kompetenz vorteilhaft von anderen psychotherapeutischen Methoden und Herangehensweisen.
Um hier weitere Klarheit zu schaffen, sollten meines Erachtens – und siehe dazu meinen oben angeführten Artikel – die Eltern-Ich-Teile neu benannt werden: in das „Wertschätzende Eltern-Ich“ und das „Abwertende Eltern-Ich“. In der elterlichen Haltung geht es vor allem um den individuellen Wert, dessen Bestätigung für jeden von uns ein Bedürfnis ist. Gerade eine Nichtbestätigung des individuellen Wertes („Du bist nicht OK“) verursacht ungesunde Anpassungsstrategien und Kompensationen, stroke economy, Machtspiele und Enttäuschungen.
Die Nachfrage nach Klarheit und Transparenz wird nicht nachlassen – das können wir im politisch-gesellschaftlichen Kontext beobachten und ich merke es deutlich an meinen „Millennials“-Patienten. Der Wunsch nach Kommunikation auf Augenhöhe, Wertschätzung und Kooperation wird immer präsenter. Der Nachkriegstrend der antiautoritären Erziehung hat etwas gebracht: die neuen Generationen gehen ohne Angst mit Autoritäten um und es ist für sie normal, eine wertschätzende Haltung zu erwarten. Das meinte Claude, als er sich noch Ende der 1960er als Feminist und Kämpfer gegen Patriarchat und Unterdrückung in jeder Form erklärt hat. Er war „traditionell“ erzogen, hatte sich aber aus seinem Wertschätzenden Eltern-Ich heraus erlaubt, etwas dagegen zu unternehmen.
Lena Kornyeyeva
LITERATUR
Berne, E. (1979). Struktur und Dynamik von Organisationen und Gruppen. München.
Berne, E. (2006). Die Transaktionsanalyse in der Psychotherapie. Eine systematische Individual- und Sozial-Psychiatrie. Paderborn.
ITAA-Forum. „Nurturing Parent – from Claude Steiner’s website“. Tread in the ITAA Yahoo-Group starting with 4.03.2010
Kornyeyeva, L. (2019). Zum Wert-Prinzip in der psychotherapeutischen Wortwahl. Report Psychologie, 1/2019, S. 23-24.
Steiner, C. (2009). The heart of The matter: Love, Information and Transactional Analysis. TA Press.
Stewart, I., Joines, V. (1987). TA Today. Lifespace Publishing, Kegworth, England.