Übersetzung aus dem Englischen

(„Scripts people change“, veröffentlicht im ‚The Script – Newsletter‘ der International Transactional Analysis Association, Juli 2019)

Wie können in einer Kultur, in ein und demselben Land, zwei gegensätzliche Einstellungen entstehen – demokratisch und pro-autoritär? Was macht Menschen überhaupt autoritär? Die Zeit der Orangene Revolution in Kiew war für mich, damals lebte ich in Kiew, eine interessante Zeit für Fragestellungen und Beobachtungen – es gab die Demokraten und diejenigen, die den autoritären Staat wollten. Als Psychologin suchte ich damals nach Antworten auf meine zentrale Frage. Was macht Menschen autoritär?

Die Frage bildete die Grundlage eines von mir entwickelten Forschungsprojekts. Ich habe damals Texte zum autoritären Charakter studiert – von Wilhelm Reich über Erich Fromm bis hin zu empirischen Studien von Stanley Milgram und dem Stanford-Experiment von Philip Zimbardo. Ich begann, das Phänomen Autoritarismus in einem sozialpsychologischen Kontext zu verstehen. Neuere Arbeiten und Berichte über autoritäre Studien waren ebenfalls interessant, beschäftigten sich jedoch meist nur mit der „äußeren Hülle“; sie fragten nach politischen Ansichten und Vorlieben einer Persönlichkeit – ohne die Gründe der Ansichten zu klären. Ich habe damals viel über die sogenannte “Okayness” nachgedacht – vielleicht könne das Konzept der Okayness helfen, eine Antwort auf meine Frage nach der autoritären Einstellung zu finden. 

Damals lernte ich, noch in Kiew, die Methode der Transaktionsanalyse. Elena Soboleva kam regelmäßig aus Sankt-Petersburg in die ukrainische Hauptstadt, um Seminare und therapeutische Marathons zur Transaktionsanalyse zu veranstalten. Als es in einem ihrer Seminare um die „Drehbücher“ – die unbewussten Scripts – ging, als sie die Möglichkeit aufzeigte, solche Drehbücher bewusst zum Guten zu ändern, erwähnte sie auch Claude Steiners Buch “Scripts People Live“, auf deutsch „Wie man Lebenspläne verändert“. Das Buch mit dunkelblauem Cover war damals Steiners einziges Buch, das ins Russische übersetzt war; es half mir, mein eigenes Skript zu verwirklichen und es so zu ändern, wie ich es wollte.

The Other Side of Power („Macht ohne Ausbeutung“) war Steiners zweites Buch, das ich las. Damals existierte es noch nicht auf Russisch oder Ukrainisch, Steiner hatte den Text frei auf seine Internetseite gestellt. Je länger ich an meinem Forschungsprojekt arbeitete, desto mehr wuchs in mir die Überzeugung, dass Claudes Verständnis der Natur der Macht und der sogenannten „Machtspiele“ mir viel über autoritäre Denk- und Verhaltensmuster erklärte. Es erschien mir nun sinnvoll zu prüfen, ob „Nicht-Okayness“ eine Voraussetzung oder eine Art „Substrat“ für die Entwicklung des autoritären Charakters ist.

Als das Forschungsprojekt ausformuliert war, präsentierte ich es einer angesehenen akademischen Einrichtung in der Ukraine. Das Projekt wurde genehmigt, aber meine Forschung hätte nur dann durchgeführt werden können, wenn ich den Professoren meine finanzielle “Okayness” bewiesen hätte – natürlich informell. Da schien ein weiteres autoritäres Spiel zu beginnen, bei dem ich aber nicht mitspielen wollte. 

Deswegen entschied ich mich, einen Professor zu finden, der sich für meine Forschungsidee interessierte. Die Bücher, die ich zum Thema las, hinterließen bei mir den Eindruck, dass westliche Wissenschaftler mehr als diejenigen in meinem Land daran interessiert waren, das Phänomen des Autoritarismus zu verstehen. Ich übersetzte also das Forschungsprojekt ins Englische und gestaltete das Forschungsmodell so, dass es auch in einem multikulturellen sozialen Kontext durchführbar war. Während der Arbeit beschloss ich, Claude Steiner eine E-Mail zu schreiben und ihn um Rat zu fragen. Aber es kam keine Antwort und ich dachte, ich solle den großen Forscher nicht weiter belästigen. Mein amerikanischer Freund jedoch, der mir bei der Übersetzung des Forschungsprojekts ins Englische geholfen hatte, empfahl mir, ihn einfach anzurufen. Steiners Telefonnummer stehe immerhin öffentlich zugänglich auf seiner Internetseite. Eines späten Abends, als es in Kalifornien schon Morgen war, wählte ich Steiners Nummer. Er nahm den Hörer ab, hörte meine Frage und sagte sehr ruhig: „Ja, ich habe deinen Brief erhalten. Ich habe auch eine Antwort geschickt, schon vor einigen Tagen. Ich denke, die Forschungsidee ist tragfähig, du sollst die Hypothese auf jeden Fall überprüfen. Viel Erfolg!“

Manchmal passiert es: Aus irgendeinem Grund finden einzelne E-Mails ihre Adressaten nicht – sie benötigen eine Hilfestellung, um beim Empfänger zu landen; so wie jeder von uns manchmal Unterstützung benötigt. Steiner versprach mir, seinen Brief erneut zu schicken. Als ich seine Kommentare und Antworten auf meine Fragen in meinem E-Mail-Postfach fand, konnte ich nicht glücklicher sein: Meine Idee wurde von einem der besten Psychologen, die ich kannte, bestätigt! Es schien meinen Kollegen und Kolleginnen unglaublich, sich an einen Star zu wenden, um Unterstützung zu erhalten und die zu erhalten. Diese Ansicht war außerhalb ihres Skript, ebenso wie meines eigenen Skript zu der Zeit.

Das Forschungsprojekt habe ich schließlich an einen der erfahrensten und angesehensten Forscher der autoritären Persönlichkeit geschickt – Klaus Boenke. Er hatte in Australien und Kanada gelehrt und war, als ich ihn anschrieb, Professor an der englischsprachigen Jacobs University in Bremen. Seine Antwort war eine weitere Bestätigung meiner Idee: Die Jacobs University lud mich offiziell ein, das Forschungsprojekt in Bremen durchzuführen. Steiners blaues Werk gehörte zu den wenigen Büchern, die ich aus der Ukraine nach Bremen mitgenommen hatte.

Meine Hypothese wurde durch eine quantitative (N = 1318) Studie bestätigt. Sobald die statistische Analyse abgeschlossen, die Dissertation geschrieben und verteidigt war, beschloss ich, in meinen Beruf zurückzukehren. Seitdem arbeite ich als Psychologin in einer Klinik in Bayern und betreibe eine Praxis für psychologische Beratung. Ich liebe meine Arbeit und ich kann mir nicht vorstellen, wie sich mein Leben entwickelt hätte, wenn ich mich nicht entschieden hätte, mein Drehbuch zu ändern.

Eines Abends, nach einem langen Arbeitstag, beschloss ich, Steiner einen Dankesbrief mit warm fuzzies* zu schreiben. Er sollte wissen, wie sehr er mir geholfen hatte, mein Leben zum Besseren zu verändern. Er wird sich, dachte ich, auf jeden Fall freuen, dass ich seine Ideen in meinen Büchern erwähnt habe, Bücher, die auf Deutsch und Russisch veröffentlicht wurden. Er wird sich über meine Dankbarkeit freuen, genauso wie ich mich freue, wenn Menschen sich bei mir für meine Arbeit bedanken.

Ich öffnete also Steiners Internetseite … und erwarb als nächstes ein Ticket nach Bad Grönenbach, dreihundert Kilometer von meinem Wohnort entfernt. In Steiners Terminkalender hatte ich eine Konferenz zur Emotionalen Kompetenz in Bad Grönenbach entdeckt, Steiner – Begründer der Methode der Emotionalen Kompetenz – war als Ehrengast geladen.

Das Buch mit dem dunkelblauen Umschlag nahm ich mit. Als ich mich Steiner vorstellte, sagte er, er erinnere sich an meiner Forschungsidee und er fragte sanft lächelnd, ob ich bereits eine Frau Doktor sei. “Ja, das bin ich”, antwortete ich und dankte ihm für die Unterstützung, die er mir damals gegeben hatte. Was damals von ihm erhalten hatte, war mehr als ein Rat eines erfahreneren Kollegen, es war eine Erlaubnis.

Wir haben in Bad Grönenbach viel über Macht und Machtspiele in meinem Heimatland und in Russland gesprochen und er sagte, dass wir Psychologen da noch viel zu tun hätten … Ich sah die Wärme in seinen Augen als er über seinen Lehrer Eric Bern erzählte. Er sagte mir auch, dass er damals zu unerfahren gewesen sei, um seine Gefühle gegenüber Bern angemessen auszudrücken.

Ich erzählte ihm von meinen Kollegen in der Ukraine und wie sehr sie seine Ideen und seine Bücher schätzten.”Weißt du“, antwortete er, „manchmal frage ich mich, warum Menschen meinen Beitrag für etwas Besonderes halten … Ich habe nicht das Gefühl, etwas Außergewöhnliches zu tun … Ich tue einfach das, was getan werden muss“.

Auf dem Weg von Bad Grönenbach nach Hause las ich das Buch mit dem dunkelblauen Cover zum fünften Mal. Das Buch war nun vom Autor signiert. Ich hatte Steiner erzählt, dass mich sein Buch all die Jahre begleitet hatte – von Kiew nach Bremen und von Bremen nach Bayern. Er hatte dann geschrieben: “To Lena, fellow Ψ enthusiast from Claude Steiner.”  Und dann: „Hör mal, hier muss irgendwo so was sein: “Ich widme dieses Buch Eric – meinem Lehrer, Freund, Vater und Bruder. Kannst Du mir zeigen, wie es auf Russisch aussieht?“ Ich fand die Widmung und er schrieb daneben: “and to Lena from Claude Steiner.” In seinen Worten und Handlungen war keine Spur von stroke economy**. Genau so sollen wir miteinander umgehen.

  • * „A Warm Fuzzy Tale“ von Claude Steiner (1969), „Das Märchen von den Kuscheltüchern“, eine metaphorische Erzählung über Entstehung des unangemessen sparsamen Umgehens mit Liebe und Anerkennung. 
  • ** Stroke economy: Sparsames Umgehen mit Liebe und Anerkennung. Ein Begriff aus der Emotionalen Kompetenz.

Lena Kornyeyeva