Eine Übertragung im psychoanalytischen Sinne kann in jeder psychotherapeutischen Gruppe vorkommen, auch in einer Weiterbildungsgruppe. Jeder – auch eine leitende fachkundige Person – ist vor allem ein Mensch. Einen entsprechenden Fall möchte ich hier betrachten.

Zu den Herausforderungen der Gruppenarbeit gehört die so genannte „Pig-Parent-Attacke“ – wenn ein Teilnehmer, ohne es selbst zu verwirklichen, Frustration und Ärger auf die leitende Person ablässt. Der Leiter oder die Leiterin ist in diesem Fall durch seine Art der Kommunikation nur Auslöser von alten, nicht oder nicht ganz verarbeiteten Gefühlen; die leitende Person bekommt die Reaktion ab, die einst dem eigentlichen Verursacher zugedacht war.

Unter einer „Pig-Parent-Attacke“ wird ein akuter Fall von Selbstabwertung verstanden (der Name ist vom „Pig-Parent“(1) hergeleitet – dem Kritischen Eltern-Ich, einem individuellen Introjekt, das eine abwertende und selbstdestruktive Haltung verkörpert). Nicht selten ist die Pig-Parent-Attacke auch nach außen gerichtet. Objekt kann eine nahestehende Person werden, die unbewusst mit ihrer Handlung ein altes Gefühl auslöst, zum Beispiel die Angst vor einer bestimmten Situation.

Um mit einem derartigen Fall therapeutisch angemessen umgehen zu können, benötigt man als leitende Person ein gut ausgeprägtes Wertschätzendes Eltern-Ich. Dieses ist die „Gegenmacht“ zum „Pig-Parent“. Ein Problem kann dann entstehen, wenn in der leitenden Person selbst eine Pig-Parent-Attacke ausgelöst wird — getriggert von der abwertenden Haltung des betroffenen Teilnehmers. Das sollte bei Psychotherapeuten nicht vorkommen, sie sind ausgebildet, um solche Situation bewältigen zu können. Doch auch Therapeuten sind vor allem Menschen. (2)

Entscheidend ist hier der Grad der Destruktivität des individuellen Pig-Parent-Introjekts. Wenn – subjektiv wahrgenommen – das Pig-Parent des Anderen potenziell machtvoller (noch destruktiver) scheint, kann es zu einer Art „Unterordnung“ kommen: der Betroffene versucht sich zu schützen, indem er dem „Machtvolleren“ nicht widerspricht, stattdessen ihn zu versöhnen versucht oder einer Diskussion aus dem Wege geht. Es ist kein rationales Verhalten, so manifestiert sich das so genannte Reptiliengehirn – der älteste und tiefste Teil unseres Gehirns, der in einer bedrohlichen oder gefährlichen Situation für die Kampf-oder-Flucht-Reaktion zuständig ist.

Das „Pig-Parent“ verinnerlicht jeder von uns im Laufe der Sozialisation als Introjekt – von den individuell wirksamen Elternfiguren. Viele von uns sind für die destruktiven Botschaften des Pig-Parent empfänglich, wir glauben dieser „höheren“ Instanz: „Du bist nicht gut genug“, „Du schaffst das nicht“ usw. In dieser Form kann sich das „Pig-Parent“ auch bei einer Person, die eine therapeutische Gruppe leitet, manifestieren. Dann ist der Leiter oder die Leiterin sofort gefordert, die destruktiven Botschaften des Introjekts zu identifizieren und diese zu neutralisieren.

Wenn die leitende Person nicht verwirklicht, dass in ihr eine „untergeordnete“ Position zum destruktiven Pig-Parent des Gegenübers entstanden ist und sie nicht mehr die Macht des eigenen Wertschätzenden Eltern-Ichs verwendet, kann sie den Betroffenen und die Gruppe nicht stabilisieren. Für andere Teilnehmer kann es zudem negative Folgen haben: Sie können die Situation als unsicher empfinden. Hier gilt eine einfache Regel: Wenn man sich selbst nicht genug in Schutz nimmt, kann man auch Andere nicht in Schutz nehmen.

Der unbewusste Prozess der Unterordnung kann sich rasch entwickeln; manchmal zu schnell, um rational und angemessen zu reagieren. Je länger eine ungeklärte Situation andauert, um so mehr Unsicherheit entsteht in der Gruppe, desto unzufriedener können die Gruppenteilnehmer werden. Das kann einen iantogenen Effekt verursachen – die Erwartungen der Teilnehmer werden nicht erfüllt, die Teilnehmer sind verwirrt und unzufrieden, bei einigen kann es eine „rubber band“-Reaktion auslösen – eine Regression oder Retraumatisierung. Viele stellen in so einer Situation entweder die Methode oder die Kompetenz des Leiters in Frage, sie verlieren ihr Vertrauen oder sie sind enttäuscht oder verärgert.

In so einer Situation muss die Macht des Wertschätzenden Eltern-Ichs ausgeprägter und spürbarer sein als die destruktive Macht des Pig-Parent. Nur eine höhere Instanz (eine spürbar größere Macht) kann für die Beruhigung und Versöhnung des betroffenen Patienten sorgen. Gleichzeitig kann diese höhere Instanz an die anderen Gruppenteilnehmer die Botschaft senden, dass in der Gruppe keiner verletzt (abgewertet, ausgegrenzt) wird. Ein Wertschätzendes Eltern-Ich, dessen Macht größer ist als die Destruktivität des „Pig-Parent“, schafft es, dem Betroffenen zu helfen, das eigene Erwachsenen-Ich einzuschalten und sich wieder ins „hier uns jetzt“ zurück zu bringen.

Das „Pig-Parent“ ist hier die wahre Ursache des iatrogenen Effektes, der für die ganze Gruppe spürbar sein kann. Unter iatrogen versteht man in der Medizin eine vom Arzt verursachte negative Folge. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, einen möglichen iatrogenen Effekt zu vermeiden.

Um das zu leisten, benötig man auch eine klare Unterscheidung zwischen dem Wertschätzenden („nährenden“) Eltern-Ich und dem Abwertenden Eltern-Ich (dem „Pig-Parent“), das uns künstlich „kleiner“ und unfähiger macht als wir in Wirklichkeit sind. Denn wenn die Definition selbst nicht klar und die Grenze zwischen den Beiden nicht sicher ist, ist die Voraussetzung für Abwertungen, Verletzungen und Enttäuschungen gegeben.

Das ausgeprägte Wertschätzende Eltern-Ich ist auch die Grundlage für eine Wiedergutmachung: es bringt den Menschen in der Lage, für eigenes Verhalten Verantwortung zu übernehmen. Zum Beispiel, in Form einer Bitte um Entschuldigung –– für die Unannehmlichkeiten, die er dem Leiter und den anderen Gruppenteilnehmern in dieser Situation bereitet hat. Der Gruppenleiter oder die Gruppenleiterin kann aus dem eigenen Wertschätzenden-Eltern-Ich die Bitte dann gerne erfüllen.

Lena Kornyeyeva

1) Da ich selbst in meiner Arbeit bewusst auf Abwertungen jeder Art verzichte, ersetze ich die Bezeichnung „Pig-Parent“ mit dem „Abwertenden Eltern-Ich“. Mehr dazu in dem Artikel „Zum Wert-Prinzip in der psychotherapeutischen Wortwahl“ (Report Psychologie, Januar 2019).

2) In diesem Sinne wäre auch der Weiterbildungsvertrag für den Zweck der emotionalen Stabilisierung vorübergehend zu pausieren und stattdessen wäre ein therapeutischer Vertrag zu schließen: so transliert der Therapeut seine schützende und bewusste Haltung (Wertschätzendes Eltern-Ich + Erwachsenen-Ich). Denn es ist nicht immer realistisch, in einer Weiterbildungsgruppe therapeutische Anteile zu vermeiden – Regressionen können immer passieren. Mit einer gut formulierten Intervention zum therapeutischen Vertrag kann der Leiter oder Leiterin das Erwachsenen-Ich des Betroffenen aktivieren. Das hilft die iatrogene Effekte möglichst fern zu halten.