Zu meinem Buch “Die sedierte Gesellschaft” bekomme ich immer wieder Briefe von Lesern – mit berührenden persönlichen Geschichten und traurigen Erfahrungen, die Leser mit Psychopharmaka machen. Eltern schreiben mir, wie ihren Kindern Psychopharmaka als “verhaltenskorrigierende” Maßnahme in der Schule empfohlen wurden. Mit der Erlaubnis des Autors veröffentliche ich einen kleinen Auszug aus seinem Brief:

Mich persönlich macht diese Entwicklung traurig. Traurig für die Betroffenen, die eine verzerrte Vorstellung bekommen – über den Zweck der Schulausbildung, über die Idee der erfolgreichen Anpassung in der Gesellschaft, über Medizin…

Hauptprinzip der Medizin war ursprünglich: Primum non nocere – vor allem nicht schaden. Doch die Entwicklungen zeigt, dass man sich als Patient in vielen Fällen nicht mehr darauf verlassen kann; wir müssen selbst darauf achten, dass Nebenwirkungen einer verschriebenen Medikation nicht die gewünschten Wirkungen übertreffen. Gerade bei den Psychopharmaka ist diese Bilanz häufig, ja fast immer negativ.

Auch in der Schule scheinen die Gesundheit und die glückliche Zukunft der Kinder nicht immer Priorität zu haben. Nur so lässt sich erklären, dass Psychopharmaka als eine „angemessene verhaltenskorrigierende“ Maßnahme Verbreitung in den Schulen bekommen haben. Bei der Empfehlung, Medikamente zu nehmen, werden in der Regel individuellen Faktoren, die zu einem „auffälligen“ Verhalten beitragen, nicht berücksichtigt und mit den Eltern oftmals nicht besprochen: der aktuelle Gesundheitszustand des Kindes, die Familiensituation, möglicher Stressauslöser innerhalb und außerhalb der Familie und andere situationsbedingte Aspekte. Es wird nicht nach einer Ursache gesucht, es wird nur eine „Standardlösung“ gegeben, die die Problematik möglicherweise abdeckt und dabei noch mehr vertieft.

Nach meinen in der Praxis gemachten Erfahrungen bin ich der Überzeugung, dass Schüler und Eltern nicht mehr Psychopharmaka, sondern mehr Aufklärung benötigen. Wie brauchen mehr Aufklärung über die menschliche Vielfalt (Variabilität), die nicht abgewertet, sondern verstanden und berücksichtigt sein soll, weil sie zu der individuellen und der gesellschaftlichen Entwicklung mehr beitragen kann, als eine falsch verstandene Anpassungsfähigkeit, die der Vielfalt widerspricht…

Individueller Erfolg beruht nicht auf einer Anpassung an gesetzte Rahmenbedingungen, er beruht vielmehr auf der Fähigkeit des Einzelnen, die für sich gewünschten Bedingungen mit der Gesellschaft aushandeln zu können und so die bestmöglichen Voraussetzungen für die eigenen Begabungen zu schaffen.

Die abwertende Botschaft, die mit einer Psychopharmaka-Verschreibung gegeben wird, fördert Schülerinnen und Schüler nicht, sie macht sie auch nicht anpassungsfähiger. “Du bist nicht in Ordnung“, “Du schaffst das nicht ohne” – das bekommt der heranwachsende Mensch von den „erfahreneren“ Erwachsenen mit auf den Weg gegeben. Anstatt „Du darfst herausfinden, was deine Begabung und Berufung ist und was dich im Leben glücklich macht. Es liegt in deiner Macht, deine Zukunft ohne Konflikt mit der Gesellschaft zu gestalten.“

Mehr Bewusstsein und mehr Eigenverantwortung, die untrennbar mit individueller Freiheit verbunden sind, sollten gefördert werden. Die wahre und bewusste individuelle Freiheit ist schöpferisch und hat keine Neigungen, die Freiheit der Anderen zu tangieren. Ein störendes Verhalten ist häufig vor allem eine Reaktion auf eine vorhandene umfeldbezogene Störung, auf einen von Eltern womöglich nicht erkannten Konflikt in der Schule.

Ich wünsche uns ein Schulsystem, das die Wertschätzung in den Vordergrund stellt – die Wertschätzung der Lehrer genauso wie Wertschätzung der Schüler. Davon können der Einzelne und die moderne Gesellschaft viel mehr profitieren, als von der Abwertung einzigartiger Persönlichkeiten und der Beschneidung individueller Fähigkeiten.

Lena Kornyeyeva