“Das Steinschneiden” von Hieronymus Bosch (1460-1516)
Bislang habe ich in meiner psychologischen Praxis keinen einzigen Mensch getroffen, der mit Psychopharmaka sein Leben verbessert hat (ich beziehe mich hier nur auf Patienten, die keine psychotischen Erfahrungen haben). Im Gegenteil: Patienten klagen über die Nebenwirkungen der Tabletten – wie eine Eintrübung des Bewusstseins und eine allgemeine sexuelle Lustlosigkeit. Sie klagen – nicht zuletzt als Folge einer medikamentösen Therapie – über Schwierigkeiten in ihrer Partnerschaft.
Erschöpfte und frustrierte Patienten bekommen Psychopharmaka von einigen Ärzten und einigen Psychotherapeuten mit der Erwartung verschrieben, dass diese aus ihrer Verzweiflung und ihrem Unglück herausfinden. Aber die Menschen, mit denen ich nach deren jahrelangem Tablettenkonsum spreche, haben das Ziel nicht erreicht – sie sind noch genauso unglücklich wie an dem Tag der erstmaligen Verschreibung. Dieses Phänomen erstaunt mich nicht – denn außer der regelmäßigen Einnahme der Tabletten haben diese Menschen in ihrem Leben meist nichts geändert: Dieselben frustrierenden Beziehungen, dieselben Probleme am Arbeitsplatz, dieselben häuslichen Schwierigkeiten mit dem Partner oder den Kindern sind geblieben, sind ungelöst.
Umso überraschter war ich, als ich einer psychologischen Fachzeitschrift las, dass „die negative Haltung mancher Therapeuten zur Pharmakotherapie zu Nebenwirkungen oder gar Schäden führen“ könne. (Thomas Müller: „Psychotherapeuten stellen sich den Nebenwirkungen“, Ärzte Zeitung, 22.1.2014, S. 16).
Das Verweigern der Psychopharmaka führe zu Nebenwirkungen? Gehören die gefühlsbetäubenden Medikamente zwingend zur Psychotherapie wie die Antibiotika zur Behandlung bakterieller Infektionen? Sind sie wirklich eine gute Wahl bei der Behandlung seelischer Ungleichgewichte?
Tatsächlich sind die Wege, die zu einer Linderung psychischer Schwierigkeiten führen, längst bekannt und können immer ohne Medikamente gegangen werden. Zusammen mit einem Psychologen lernen die Patienten sich selbst kennen und verstehen. Zusammen mit einem guten Psychologen können sie Konflikte lösen und bewältigen. Diese Prozesse können durch keine Tabletten ersetzt werden – im Gegenteil. Psychopharmaka gegen seelisches Unbehagen von normalen Menschen zu nehmen ist genauso unangemessen, wie ein Karamellbonbon gegen Zahnschmerzen zu lutschen. Nur die Nebenwirkungen sind doch viel schlimmer…
In Deutschland ist die Eigenverantwortung der Patienten, zu der auch die Wahl des Arztes gehört, systembedingt unterentwickelt. Krankenkassen bezahlen für die Therapie … Und den Kassen wird von den Patienten auch unbewusst die Verantwortung zugeschoben. Patienten haben gelernt, dass eine „Umsonst“-Behandlung auch eigentlich ganz „umsonst“ ist – dass sie den gewünschten Effekt nicht erreicht. Wegen diesen geringen Erwartungen betrachten die Patienten die Psychologen und Psychotherapeuten weniger kritisch als sie es sollten. Deswegen suchen sie nicht nach dem richtigen und passenden Therapeuten – es ist ja „nicht ihr“ Geld. Oder: Einem geschenkten Gaul (eine geschenkten Therapie …) schaut man nichts ins Maul (… hinterfragt man nicht).
Gleichzeitig wird auch die Motivation der Psychotherapeuten in diesem System geringer. Nicht der zufriedene Patient bezahlt die Stunden, sondern die Kasse. Der Psychologe muss vor allem dafür Sorge tragen, dass die Zahl der Termine auf dem Papier stimmen und dass Berichte und Gutachten fristgerecht eingereicht werden. Die Befriedigung der Kasse wird zumindest unbewusst wichtiger als die Gesundung und die Zufriedenheit des Patienten.
In diesem System kommt ein vertrauensvolles und verantwortungsvolles Miteinander von Psychotherapeuten und Patienten unter die Räder. Aus einer der Heilung förderlichen Vertrauensbeziehung wird ein Absitzen der von der Kasse bezahlten Stunden – mit häufigen therapeutischen Misserfolgen, mit häufigem Einsatz von Psychopharmaka als ultima ratio. Darüber erzählen mir die Betroffenen immer wieder…
Eine verhängnisvolle Entwicklung: Denn in der modernen Welt können wir uns ein Funktionieren der Gesellschaft ohne die Dienstleistungen der Psychologen und Psychotherapeuten nicht mehr vorstellen. In der modernen Welt haben sich die Menschen derart isoliert, dass traditionelle Mechanismen seelischer Gesundung wie Gespräche mit Freunden oder in der Familie verkümmert sind, dass externe Hilfestellungen existentiell notwendig werden.
Doch die unbewusste und unreflektierte Übertragung der Verantwortung für die Seele auf den Spezialisten bringt ein Risiko mit sich – die Gefahr, dass das Seelenleben, die privaten Probleme und das private Unglück zu einer Handelsware werden, dass es zu einer „Vermarktung des Unglücks“ kommt. Psychopharmaka sind die Mittel, die gegen das Leiden eingetauscht werden, mit Psychopharmaka ließen sich psychische Probleme kommerzialisieren. Und wie immer bei diesen Geschäften: Die Hersteller der Mittel können kein Interesse daran haben, dass der Absatz nachlässt, sie können nicht hoffen daran, dass Patienten gesund und glücklich werden.
Psychopharmaka sind die gefährliche Begleiterscheinung der modernen Leistungsgesellschaft: sie monetisieren das Unglück und verhindern eine harmonische Gesundung. Psychotherapie darf sich nicht am Kommerz orientieren – sondern muss sich emphatisch um die menschliche Seele kümmern.
Lena Kornyeyeva