Wenn die Eltern mich fragen, ob sie sich nicht überlegen sollten, Ritalin oder vergleichbare Tabletten ihrem Kind zu verabreichen, frage ich immer zurück: „Mit welchem Ziel möchten sie das tun?“ Diese Frage bring die Eltern erst einmal in Verlegenheit und dann sagen sie etwas in der Art: „Gute Frage… Damit das Kind anpassungsfähiger wäre…“
Auch habe ich einige Aussagen der Eltern gehört, dass ohne Tabletten ihr Kind nicht lenkbar genug wäre, dass es unnötige Diskussionen da führen würde, wo etwas einfach gemacht werden müsse. Mit der Tablette macht das Kind dann, was von ihm erwartet wird, und die Eltern sind scheinbar zufrieden.
Ich vermute, dass es zwei Arten von Eltern gibt: Die einen, die glauben, dass ihr Kind anpassungsfähig sein muss. Und die anderen, die glauben, dass ihr Kind für etwas Besseres befähigt ist.
Als wir Kinder waren, waren wir auch mit der Aufgabe konfrontiert, uns an die Welt und die gesellschaftliche Realität anzupassen. Jede löst diese Aufgabe auf seiner Art, erlebt dabei womöglich Krisen. Ein wichtiger Bestandteil des individuellen Wachstums ist auch eine Identitätssuche; die Entwicklung der eigenen Identität fällt den Menschen nie leicht. Gerade bei den Jugendlichen ist die Identitätssuche ein wichtiges Thema, das ihnen Sorgen und innere Unruhe bereitet und worüber vielen von ihnen nicht mit den Eltern reden können. Diese wichtige existentielle Erfahrung vergessen die meisten, sobald sie dieses kritische Alter überschritten haben.
Gerade so entstehen Missverständnisse. Es wird gerne behauptet, dass die „Pubertät ein sehr schwieriges Alter“ sei. Darunter wird dann meistens gemeint, dass dieses Alter für die Eltern sehr schwierig sei. Tatsächlich gestaltet es sich für die Jugendlichen aber viel schwieriger. So ein junger Mensch wird dann unangepasst und widerspenstig erscheinen.
Die Basis des Erwachsenwerden-Prozesses ist ein Bedürfnis, das für viele Eltern nicht nachvollziehbar ist, da die Eltern sich mit anderen Lebensaufgaben und ihren eigenen unerfüllten Bedürfnissen beschäftigen. Sein grundsätzliches Bedürfnis kann vielleicht auch nicht jeder Jugendliche klar formulieren, da er dafür noch nicht die ausreichende psychologische Reife besitzt. Denn sein Bedürfnis ist eher spiritueller Natur und es treibt die Jugendlichen, Fragen existenzieller Art an sich und an die Anderen zu stehlen. Fragen, auf die es meist keine einfachen Antworten gibt. Wer bin ich? Was ist der Sinn des Lebens und meines Lebens insbesondere? Wofür bin ich hier, wenn nicht nur um meine biologischen Bedürfnisse zu erfüllen? Haben die Eltern Recht? Immer? Wieso leben sie ihr Leben so, wenn sie doch so viel mehr Freiheiten und Möglichkeiten besitzen? Wieso sind sie nicht in der Lage mich zu verstehen, wenn sie viel älter und erfahrener sind als ich? Muss ich auch so wie meine Eltern werden oder gibt es Alternativen? Wie kann die Ordnung in der Gesellschaft so zentral sein, wenn es doch offensichtlich viel wichtigere Dinge im Leben gibt: wahre Selbstverwirklichung, wahre Liebe, individuelle Transzendenz? Wie kann ich mein Leben mit diesen Prinzipien gestalten? Wer kann für mich als Vorbild dienen? Gibt es überhaupt Autoritäten für mich oder jeder ist allein für sich zuständig?
Der, der sich solche Fragen stellt, muss zwangsläufig eine gewisse Krise durchmachen. In dieser Phase werden Eltern meist nicht als Vorbild oder als ausreichende Autorität gesehen. Die unerfüllten Erwartungen des fast erwachsenen Kindes lassen sich in seiner äußeren Unzufriedenheit und seinem Widerstand spüren, und diese Erwartungen werden von den Eltern viel zu häufig falsch interpretiert. Als Reaktion darauf entsteht dann der Wunsch der Eltern, das Kind „angepasster“ zu formen.
Doch die tatsächliche Aufgabe der Eltern ist, in dieser Situation das Kind zu verstehen. Ihm zu helfen, die Krise erfolgreich zu überstehen und seine eigene Identität zu finden und Frieden mit der äußeren Welt zu schaffen. Eine Identität, mit der ein junger Mensch sein weiteres Leben zufrieden durchleben kann und in der Lage ist, die kommenden Lebensaufgaben zu lösen.
Wenn sie als Eltern merken, dass ihr Kind diese Phase erlebt, freuen sie sich, dass ihr Kind sich als Persönlichkeit entwickelt. Auch wenn diese Krise ziemlich turbulent sein mag und zu allen möglichen Konflikten führt. Es gibt kein Leben ohne Konflikte; jeder sollte deshalb lernen, mit Konflikten umzugehen – um so zufriedener wird sich sein weiteres Leben gestalten.
Vergessen sie nicht, dass die Gesellschaft, an die sie versuchen ihr Kind anzupassen, bereits zur Vergangenheit gehört. Ihr Kind wird sich an eine andere Gesellschaft anpassen müssen, an Bedingungen und Voraussetzungen, die sie noch nicht kennen können. Womöglich wird ihr Kind selbst die neue Gesellschaft, in des hineinwächst, kreativ gestalten wollen und können – vielleicht wird es eine bessere, gerechtere, freiere und glücklichere Gesellschaft sein. Dafür benötig es nicht nur Disziplin und Ordnung, sondern vor allem innere Freiheit, ein kreatives Denken und den Glauben an sich selbst.
Wenn sie sich mit der Frage beschäftigen, „sollte ich meinem Kind Ritalin geben?“, beantworten sie erst folgende Frage: „Hat ihr Kind nicht etwas viel Besseres verdient?“
Lena Kornyeyeva