Für viele Menschen war er ein Lehrer, ein Freund, eine Autorität. Der Psychologe Claude Steiner starb am 9. Januar 2017 im Alter von 82 Jahren auf seiner Ranch in Kalifornien. Als ich ihn auch persönlich kennen lernen durfte, wirkte er auf mich fast wie ein weiser Buddha. Aber ein Guru war er nicht – er hatte nie den Anspruch, Anderen eine Meinung vorgeben zu wollen. Stattdessen legte er immer größten Wert auf die Autonomie und die Freiheit des Einzelnen.
Sein Beitrag zur Theorie und Praxis der Psychotherapie waren die Script-Analyse und die Script-Matrix, die er im Rahmen der transaktionsanalytischen Methodologie geleistet hat. Seine Herangehensweisen helfen, das unbewusste Szenario oder „Drehbuch“ eines Lebens zu erkennen, um es bewusst dann zum positiven verändern zu können. Vor allem hatte sich Steiner mit der Liebe befasst. Seine Enttarnung der so genannten „stroke economy“ (der Neigung, mit Liebe und Anerkennung unnötig sparsam und manipulativ umzugehen) klärt die wahren Ursachen vieler menschlichen Beziehungsprobleme. Die von ihm entwickelte Methode der Emotionalen Kompetenz (emotional literacy) hilft, die gewünschten Wertschätzung und Anerkennung in einer Beziehung zu erlangen – die eigenen Emotionen und Gefühle und diejenigen des Partners zu verstehen und mit diesen gut umzugehen.
Claude Steiner war in einer Macho-Kultur aufgewachsen, in einer Generation, in der Gefühle kein Thema, sogar ein Tabu waren. Auch in der Psychotherapie der 1960er und 1970er Jahre ging es kaum um die Emotionen und deren Bedeutung, sondern um die kognitiven Herangehensweisen und Verhaltensmuster, die womöglich zu korrigieren waren. Claude sah die stroke economy nicht nur in dem gruppentherapeutischen, sondern auch in dem breiteren gesellschaftlichen Kontext mit politischen Implikationen. Dazu hat er viel geschrieben und damit ins Verständnis der Macht und ihrer Entstehung in den menschlichen Beziehungen beigetragen.
Seine Hervorhebung der Gefühle und Emotionen für die psychotherapeutische Arbeit stand damals dem Mainstream entgegen. Anfang der 1970er Jahre hatte Steiner beobachtet, wie gerade der sparsame Umgang mit Liebe und Zuwendung die Menschen unglücklich machte und unerwünschte Gefühle verursachte. Steiner hielt dem einen liebevollen Umgang entgegen – einen liebevollen Umgang mit den anderen aber auch mit sich selbst. Sein Ziel war, eine gesunde Autonomie zu erreichen, statt in die Abhängigkeiten zu verfallen, Liebe zu geben und zu nehmen, statt sich auf Machtspiele einzulassen. Ein authentisches und zufriedenes Leben zu leben war für Steiner nicht die Frage des Schicksals, es war für ihn die Frage einer individuellen Entscheidung, Glück – ein Zustand, den man bewusst erreichen kann.
Das Verständnis der Depression als Zuwendungsmangelkrankheit gehört ebenfalls zu Steiners Beiträgen zur Psychotherapie. Das natürliche Bedürfnis nach Liebe, mit dem wir alle zur Welt kommen, hatte für ihn eine zentrale Bedeutung. Man kann eine Depression nicht verstehen und heilen, wenn man dieses menschliche Bedürfnis nicht berücksichtigt oder als unbedeutend einschätzt. Den freien und freiwilligen Austausch von Liebe und Zuwendung zu ermöglichen – ohne falsche Sparsamkeit – war für Steiner der Zweck der Psychotherapie; das macht den Menschen und seine Beziehungen gesünder, freier und zufriedener. Das „Herz öffnen“ (so nannte er diesen Vorgang) bedeutete für ihn zu lernen, wie die gewünschten Anerkennungseinheiten anzunehmen und von den Anderen einzufordern (darum bitten) sind, bedeutete für ihn auch, die ungewünschten Zuwendungen nicht anzunehmen (sich in Schutz nehmen), den Anderen die von ihm gewünschten zu geben und sich darüber hinaus mit sich selbst wertschätzend zu verhalten. Alles sollte ehrlich, freiwillig, ohne Lügen und ohne Selbstbetrug geschehen – dafür sorgt der kooperative Vertrag unter allen Mitbeteiligten, auch eine wichtige Erarbeitung von Claude.
Die Vorstellung von der Liebe als knappes Gut („wenn wir Liebe geben, bleibt uns weniger zurück“) ist nach Steiner nichts anderes als eine Lüge und ein Selbstbetrug. Die stroke economy ist eine unbewusste Übertragung der wirtschaftlichen Gesetze auf eine Liebesbeziehung, die der Realität nicht entspricht. Umgekehrt wird auch in der Wirtschaft Kooperation immer besser funktionieren als eine Konkurrenz und Kampf um die Güter. Insofern ist Claude Steiners Lehre universell, sie lässt sich in vielen Lebensbereichen erfolgreich anwenden. Im Rahmen der „Stroke City“ (Stadt der Streicheleinheiten – ein Labor der Emotionalen Kompetenz) in Berkeley, wo er im Radical Psychiatry Center tätig war, konnte er seine Methode immer weiter entwickeln und präzisieren, so dass sie inzwischen ein effektives Instrumentarium bildet.
Kein Hokuspokus, völlige Transparenz und Kommunikation mit den Patienten auf Augenhöhe und in einer Sprache, die den Patienten völlig verständlich ist – dieses Prinzip hat Steiner von seinem Lehrer und Freund Eric Berne übernommen. Wie Berne sieht er jeden Menschen von der Geburt an als ausreichend befähigt, um mit seinen Lebensaufgaben und Herausforderungen erfolgreich umgehen zu können. Nur die äußeren Umstände – das in der Kindheit unbewusst „geschriebene“ Script, der durch die von außen verinnerlichten Abwertungen und Selbstabwertungen eine Persönlichkeit einschränkt und blockiert – machen die Menschen unfähiger, als sie sind.
Steiners Bücher, vor allem „The Other Side of Power“ (Grove Press, zuerst im 1981 veröffentlicht), in dem er die so genannten Machtspiele konzipierte und den Umgang mit denen erarbeitete, hatten mir als Studentin die notwendige Klarheit im Denken gegeben. Damals entwickelte ich die Idee meiner empirischen Forschung zum autoritären Charakter, der als eine endgültige Verkörperung der Machtspiele (Intransparenz und Ausbeutung) zu verstehen ist. Als ich Claude persönlich um Rat fragte, war er sofort bereit, der ukrainischen Doktorandin aus Kiew inhaltliche Unterstützung zu geben.
Steiners Arbeiten und seine Methode finden immer mehr Anerkennung und Verbreitung in Europa und weltweit. In einigen Ländern wird die Emotionale Kompetenz bereits von den zertifizierten Trainer gelehrt, so auch in Deutschland. Die Weggefährten Steiners tragen seine Ideen weiter, so auch in der Deutschen Gesellschaft für Emotionale Kompetenz.
Mit seiner langjährigen Arbeit hat Claude Steiner einen wesentlichen und vor allem praxistauglichen Beitrag zur Psychotherapie geleistet, er hat die Kraft der Liebe und Wertschätzung in die Wissenschaft eingeführt. „Ich habe nur meine Arbeit gemacht und versucht, niemanden damit zu schaden“, hat er mir in einem Gespräch vor Jahren in aller Bescheidenheit gesagt. „Love ist the answer“ – das waren seine letzten Worte.
Lena Kornyeyeva
Veröffentlicht in VPP aktuell (Verbandsorgan des Verbands Psychologischer Psychotherapeuten im BDP e.V. (VPP), Heft 36, März 2017
http://doktorlena.de/uebermich/liebeistdieantwort.html