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Doktor Lenas Blog

Von den Neuronen zum Hühnerauge:

Denkweisen, Uncategorised Posted on Sat, February 01, 2025 20:18:30

Über empfindliche Stellen in einer Beziehung

Artikel veröffentlicht im Report Psychologie Nr 2. vom 2021

Im Alltag der Dermatologen ist das Hühnerauge ein tägliches Problem. Eine für Andere fast unsichtbare Hautversiegelung am Fuß oder Zeh. Es bildet sich langsam und kann über Monate ignoriert werden. Früher oder später jedoch wird die Spitze des toten Epitheliums in Kombination mit engen Schuhen einen stechenden Schmerz verursachen.

Im Alltag des Paarcoaching beobachte ich immer wieder ein Phänomen, zu dem die Metapher eines Hühnerauges mit seiner Unsichtbarkeit und Schmerzhaftigkeit sehr gut passt. Es ist ein „emotionales Hühnerauge”: ein Herd eines emotionalen Unbehagens, das unter wiederkehrenden negativen emotionalen Erfahrungen entsteht. 

Dieses emotionale Hünerauge bildet sich an der empfindlichsten Stelle unserer Seele: da, wo unser soziales Hauptbedürfnis sitzt — das Bedürfnis nach Wertbestätigung. Das Bedürfnis nach Wertbestätigung ist die Grundlage einer jeden Beziehung. „Unerwünschte“, also negative Emotionen entstehen immer gerade da, wo ein Bedürfnis nicht erfüllt wird.

Zuerst sind Beziehungen meist ein Quell reiner Freude, doch irgendwann kommen Missverständnisse, Entfremdungen und Schmerz. Es wäre nicht korrekt zu behaupten, dass dazu die schlechte oder gar böse Absicht eines der Beteiligten gehört. Oft kommen die Missverständnisse und Entfremdungen auch bei denjenigen, die sich aufrichtig lieben und sich ehrlich bemühen, ihre Beziehung gut zu gestalten. Doch beginnen sich bei den Partnern, ohne dass sie es selbst bemerken, über die Jahre emotionale Hühneraugen zu bilden. 

Um die Beziehung zu harmonisieren, braucht man ein wenig Wissen über das Funktionieren des Gehirns. Unser Gehirn ist immer tätig und lernt ohne Unterlass. Erfahrungseinheiten werden verarbeitet und gespeichert. Doch ein Gehirn speichert die Daten nicht wie ein Computer, sondern als Verbindungen zwischen Neuronen und Neuronenzentren. Durch diese Verbindungen (Axone) wird ein elektro-biochemisches Signal übermittelt, das bestimmte emotionale und physiologische Reaktionen hervorruft.

Wenn sich – um ein Beispiel zu geben – ein Partner in einer Situation nicht einfühlsam genug zeigt – vielleicht auch nur aus Nachlässigkeit – fühlt sich der andere unwohl. Aber, trotz des Gefühls, das er wahrnimmt, möchte er aus der Mücke keinen Elefanten machen und schweigt.

In einer ähnlichen Situation, vielleicht ein paar Tage später, ruft der eine Partner bei dem anderen eine ähnliche Reaktion hervor. Diesmal kommt es zu keiner Reaktion – auch wenn der betroffene Partner überlegt, dass er irgendwie reagieren sollte. Aber er will vielleicht eine negative oder schroffe Antwort des Partners vermeiden – und schweigt. Eine Erfahrung nach der anderen führen dazu, dass sich die Hornhaut des metaphorischen Hühnerauges nach und nach aufbaut, dass die Neuronen immer mehr Verbindungen schaffen, die bei folgenden Reizen immer stärkere Signale übertragen können.

Bei jeder weiteren vergleichbaren Situation spürt der Partner mit dem emotionalen Hühnerauge den Druck mit höherer Intensität. Wenn er irgendwann versucht, darüber zu sprechen, reagiert der Andere überrascht: Nie zuvor habe sein Verhalten gestört und jetzt sei es plötzlich ein großes Problem. Der gegenseitig entstehende Ärger führt dazu, dass das emotionale Hühnerauge immer fester wird.

Schließlich versucht der betroffene Partner bewusst, die Ursache des Unbehagens zu beseitigen. Aufgrund der angesammelten Emotionen fällt es ihm jedoch schwer, diplomatisch und ruhig darüber zu sprechen: die schmerzende Spitze des Hühnerauges beeinflußt den allgemeinen psycho-emotionalen Zustand negativ. Bei unzureichender Diplomatie provoziert der Partner unabsichtlich die Bildung eines emotionalen Hühnerauges auch bei dem Partner, bei dem es bislang nicht vorhanden war. Infolgedessen beginnen die Partner, sich voneinander zu distanzieren, bald werden Gespräche und auch Intimitäten vermieden – nur weil die Hühneraugen immer häufiger und immer schmerzhafter drücken.

Die Partner erwarten in ihren Gesprächen bereits die Verhaltensweisen vom Gegenüber, die sie nicht mögen. Schon der Ton einer Stimme kann Auslöser einer Emotion sein, die wie eine Rakete von Elon Musk auf ihren Start wartet.

Plötzlich fühlt man sich nicht nur durch das Verhalten des Partners unwohl, sondern auch durch die eigenen Emotionen, die einem Unsicherheit bereiten und viel Energie kosten. Man befindet sich in einem Zustand der Mobilisierung, wartet auf die nächste negative Erfahrung und versucht, sich innerlich auf das nächste Ereignis vorzubereiten. Das Hühnerauge bleibt als Hintergrundschmerz präsent.

Dadurch verändert sich die Wahrnehmung des Partners radikal: vom angenehmen Gegenüber zum unangenehmen. Diese Haltung begünstigt dann selbst Verhaltensweisen des Partners, die als unangenehm empfunden werden. 

Sätze wie „Alle Männer sind Schweine“ und „Frauen wissen nicht was sie wollen“ sind Indizien für ein bereits lange vorhandenes emotionales Hühnerauge. Wer sein Hühnerauge nicht rechtzeitig erkannt und seine Beziehung nicht harmonisiert hat, der überträgt die negative Erwartungshaltung, die er dem Partner entgegengebracht hat, auf alle Vertreter dieses Geschlechts.

In der Paartherapie beobachte ich, welche emotionalen Reaktionen sich auf den Gesichtern der Partner widerspiegeln, wenn sie miteinander oder mit mir reden. Und ich sehe, wodurch die Reaktionen ausgelöst werden. Das ist notwendig, um den Paaren dabei zu helfen, sowohl eine Sensibilität als auch ein korrektes Verständnis und eine angemessene Reaktion auf diese Signale zu entwickeln. Das ist die äußere Seite des Prozesses. Die innere, die neurophysiologische Seite kann man wissenschaftlichen Arbeiten entnehmen. So gibt es Studien, in denen Probanden in einem MRT liegen und mit Situationen konfrontiert werden. Schon bei der bloßen Erwähnung einer Person, die mit negativen Erfahrungen verbunden ist, wird das Schmerzzentrum im Gehirn aktiv. Es ist die gleiche Reaktion, die bei körperlichen Schmerzen auftritt. Das Gehirn scheint uns so zu steuern, dass wir so weit wie möglich von Denjenigen entfernt bleiben, die mit dem emotionalen Hühnerauge assoziiert werden. Für meine Arbeit ist wichtig, auch diese für das Auge unsichtbaren neurobiologischen Gegebenheiten zu berücksichtigen und diese verständlich zu machen, damit die Paare das gegenseitige Verständnis allmählich wieder aufbauen können (einhergehend mit einer allmählichen Neuprogrammierung der neuronalen Verknüpfungen). 

Die neuronalen Verknüpfungen bilden sich, wenn es um eine für unsere Psyche bedeutsame Erfahrung geht. Essentielle Erwartung in einer Beziehung ist, dass der Partner uns wertschätzt und uns allen anderen vorzieht. Deshalb fühlen wir uns so verletzt, wenn die Haltung des Partners rücksichtslos oder missachtend wirkt.

Um die Bildung der emotionalen Hühneraugen gar nicht erst zuzulassen, ist es wichtig, den Partner immer über die eigenen Emotionen zu informieren; ohne dabei seine Gefühle zu verletzen. Um das leisten zu können, müssen die Partner wissen, wann Emotionen auftreten und welche Funktion sie haben. Emotionen sind immer da, sie sind ein natürlicher Bestandteil unseres geistigen Lebens und auch unsere Helfer und Verbündeten, wenn wir sie richtig verstehen. Ebenso wichtig ist es, sich über die eigenen Bedürfnisse im Klaren zu sein, diese nicht mit „Launen“ zu verwechseln und auch zu wissen, wie sie mit den Emotionen verknüpft sind.

Wer aber dann doch ein emotionales Hühnerauge entwickelt hat, sollte lieber früher als später zum Paarcoaching gehen – bevor sich die neutralen Verknüpfungen immer mehr verhärten, bevor die Freude am Zusammensein ganz einem schmerzvollen Gefühl gewichen ist. 

Lena Kornyeyeva

LITERATUR: 

Eisenberger N., Lieberman M., Williams K. Does Rejection Hurt? An fMRI Study of Social Exclusion. Science, 2003: Vol. 302, Issue 5643, pp. 290-292.

Fisher H., Brown L., Aron A., Strong G., Mashek D. Reward, addiction, and emotion regulation systems associated with rejection in love. Journal of Neurophysiology, 2010 Jul; 104(1): 51-60.

Kross E., Berman M., Mischel W., Smith E., Wager T. Social rejection shares somatosensory representations with physical pain. PNAS April 12, 2011 108 (15) 6270-6275; https://doi.org/10.1073/pnas.1102693108

Mollet G., Harrison D. Emotion and pain: a functional cerebral systems integration. Neuropsychology Review, 2006 Sep;16(3):99-121. doi: 10.1007/s11065-006-9009-3.Epub 2006 Sep 28.

Giacomo Rizzolatti, Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt am Main.: Suhrkamp, 2008.

Tomova L., Wang K.L., Thompson, T. et al. Acute social isolation evokes midbrain craving responses similar to hunger. Nature Neuroscience 23, 2020.



Ein Buch, das Angst nimmt

Denkweisen Posted on Mon, February 06, 2017 19:41:37

Melanie Müller und Mischa Miltenberger haben ein wichtiges Buch geschrieben: Sie schildern aus ihrer ganz persönlichen Perspektive, wie es gelingen kann, Antidepressiva abzusetzen. Beide wurden von ihren ehemaligen Ärzten im Übermaß mit Psychopharmaka versorgt und beide gingen einen schweren, manchmal fast grausamen Weg hin zu einem bewussten Leben ohne bewusstseinsverändernde Medikamente. Offen schildern sie in den ersten beiden Kapiteln ihre lange vergeblichen Versuche, von den Pillen loszukommen.

Viele Menschen, die in depressiven Phasen mit Psychopharmaka begonnen hatten, kommen später von den Tabletten nicht los. Auch wenn sie keinen Sinn mehr in der medikamentösen Behandlung sehen, haben sie doch eine enorme und durchaus nicht unberechtigte Angst vor den Absetzerscheinungen. Vielleicht hatten sie schon die individuelle Dosis heruntergefahren, dann aber derart dramatische Erfahrungen gemacht, dass sie nun lieber jeden Tag weiter die Pillen schlucken, die sie nicht wollen.

Die Medizin hatte Absetzerscheinungen von Antidepressiva lange Zeit ignoriert. Patienten, die nach Medikamentenverzicht eine unangenehme Entzugssymptomatik zeigten, wurde ein Rückfall in die alte Krankheit diagnostiziert. Entsprechend falsch wurden sie behandelt – sie wurden mit ihren psychischen und körperlichen Reaktionen allein gelassen.

Das Buch „Antidepressiva absetzen“ kann den betroffenen Lesern die Angst nehmen, die mit dem Absetzen der Psychopharmaka einhergeht. Das Buch vermittelt die begründete Hoffnung, dass der Weg heraus aus der Medikamentenabhängigkeit doch gut enden wird. Dazu gehören natürlich Änderungen des Lebensstils und der Einstellungen: alles, was depressiv machen kann, soll mit einer gesunden und liebevollen Haltung zu sich selbst ersetzt werden.

Das Buch bestätigt meine Praxiserfahrung, dass Depression ein Symptom ist – eine gesunde Reaktion auf eine ungesunde Lebensentwicklung. Es ist ein Zeichen dafür, dass man nicht sein Leben lebt und darunter leidet. Das Signal der Seele kann und sollte man rechtzeitig wahrnehmen, denn es gibt eine eindringliche Botschaft: „Mache so nicht weiter, ändere deinen Umgang mit dir selbst. Mache das, was dir gut tut. Richte dich nicht nach Erwartungen der Anderen, definiere deine Maßstäbe selbst. Vertraue dir selbst, du bist fähig und bist von Wert. Gestalte deine Beziehungen nach deinen Vorstellungen. Gehe mit dir liebevoll und wertschätzend um. Erlaube dir, glücklich zu sein.“

Auf den Weg zum guten Ende geben Müller und Miltenberger zahlreiche Tipps, so Ratschläge zur Ernährung oder Methoden der Achtsamkeit. Interviews mit Experten – Psychiater und Blog-Autoren – ergänzen die Darstellungen und geben dem Leser das Gefühl, hier umfassend über ein Thema informiert zu werden.

Jeder, der mit den Antidepressiva aufhören will, sollte dieses Buch lesen. Es beantwortet vielleicht nicht jede Frage, aber es kann und wird dem Leser eine Unterstützung sein.

Melanie Müller, Mischa Miltenberger:
Antidepressiva absetzen – Dein Wegbegleiter mit unseren Erfahrungen &
wertvollsten Tipps, 2016

Lena Kornyeyeva



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