„Den
wir gestern im Bett gefunden haben, den Pokémon, kann ich den noch
mal sehen?“

„Schiggy?
Nein, ist gefangen, in der Kugel.“
„Dann warten wir eben auf
den nächsten …“

Der
Dialog hätte noch vor wenigen Wochen absurd geklungen. Doch nach ein
paar Tagen Pokémon-Erfahrung gehören solche und ähnliche Gespräche
zu einer Realität, die immer virtueller wird. Wir leben tatsächlich
längst in der Matrix und sie übertrifft alle Erwartungen.
Baudrillard und seine Simulakren waren längst nicht so spannend wie
die Pokémons. Menschen – die Erwachsene, die mit ihren Smartphones
begeistert nach Pokémons suchen, füllen meine Stadt (gerade eben
zog ein Trupp an meinem Haus vorbei …). In Schulen werden digitale
Spielzeuge wie die i-pads zum üblichen Unterrichtsmittel.
Wissensvermittlung wird immer visueller und die visuellen Mittel
selbst sind nicht mehr statisch – sie zeigen sich heute beweglich,
lebendig und interaktiv, sie reizen und amüsieren, sie ziehen an.

Die
Schriftkultur, die vielen Generationen als Mittel und Ansporn der
intellektuellen Entwicklung und Fortschritt diente, scheint in der
Zukunft keinen Platz mehr zu finden. Das, was man früher durch Lesen
und Schreiben lernen konnte und gelernt hat und was zu der
menschlichen Identität noch immer gehört – denken, verstehen,
abstrakte Ideen entwickeln, sich etwas vorstellen, Bedeutungen
schaffen und hinterfragen – wird immer schneller out of date und
wird bald geradezu überflüssig sein.

Wenn
heute jemand ohne Ende und ohne Mühe vorgefertigte Identitäten und
Ideen konsumieren kann, was kann ihn dann noch bewegen, seine eigene
Identität und seine eigenen Ideen zu entwickeln? Je scheinbar
lebendiger die virtuellen Kreaturen um uns herum aufpoppen, desto
schneller stirbt währenddessen die Schriftkultur.

Die
Digitalisierung und Virtualisierung führt unterdessen immer weiter:
Demnächst werden wir mit unsere Stimme unzählige Gadgets steuern,
ja auch Texte erstellen. Die Dame im meinem Smartphone spricht mich
bereits seit Langem auffordernd an. So ist der Fortschritt, denken
die meisten. Wir müssen eben mit der Zeit gehen … Wir bedenken
aber nicht, dass diese Entwicklung paradoxerweise nur ein Fortschritt
der Technik ist; für die Menschen, die immer weniger schreiben,
lesen und nachdenken, scheint es geradezu eine Degradierung zu sein.
Menschen verlieren fast spielerisch die Fähigkeit, die sie zu
bewussten und kritischen Individuen macht.

Der
Wandel vom Homo Sapiens zum Homo Virtualis ist im Gange; aber
zukünftigen Generationen werden die Mittel und Fähigkeiten fehlen,
diesen Prozess zu beschreiben und zu analysieren.

Früher
hieß es, dass diejenigen, die Bücher lesen, immer über die anderen
herrschen werden, die nur TV schauen. Heute kann man behaupten,
dass sich diese Dualität fröhlich auflöst. Wer sich mit Pokémons
und anderen virtuellen Phänomen beschäftigt, fällt aus dem
politischen Leben. Er wird instrumentalisiert und beherrscht –
aber es stört ihn nicht im Geringsten. Kann man sich im
Pokémon-Zeitalter noch einen studentischen
Anti-Establishment-Aufruhr wie die 1968er-Bewegung vorstellen? Oder
können in der virtuellen Realität noch politisch-intellektuelle
Gruppen gedeihen, die den Anspruch haben, selbst eine vollständige,
d.h. verantwortliche Elite zu werden?

Nein,
diese Ansprüche sind längst zugrunde gegangen. In einer ernst zu
nehmenden Petition fordern Zehntausende, dass – Pokémon auch auf
Windows Phone verfügbar sein soll. Die Unbequemlichkeit in der
virtuellen Realität bewegt Menschen eher gesellschaftlich aktiv zu
werden als die Unbequemlichkeit in der echten. Britische jungen
Leute, die mehrheitlich die Brexit-Abstimmung ferngeblieben sind (was
interessiert uns noch Politik …?), haben am Tag nach der Abstimmung
panisch „what is EU“ gegoogelt. Immerhin ein letztes Aufbäumen
eines Interesses an der realen Welt und den realen politischen
Vorgaben.

Immer
neue Unterhaltungen a la Pokémon wirken unvermeidbar als eine
Infantilisierung; und diese hat Nebenwirkungen: Während ein
Erwachsener in der Lage ist, Verantwortung zu tragen, passt sich ein
Kind entweder unkritisch an oder es wählt die Sprache der
kontraproduktiven Rebellion. Für die infantilisierte Masse wird die
Rebellion heute immer mehr zum Ziel, nicht zum Mittel. Und derjenige,
der aus dieser Rebellion ein politisches Kapital ziehen will, kann es
dank der Infantilisierung leicht machen.

Noch
bietet das Leben zwei Optionen: Entweder wird man ein bewusster
Produzent seiner eigenen Identität oder man ist der Konsument einer
fertigen fremden. Doch die Schaffung der eigenen Identität und die
Ausbildung einer eigenen Meinung bereitet Mühe, fordert Anstrengung;
der Konsum der fertigen Identitäten und Meinungen hingegen sorgen
für Unterhaltung und Spaß. „Wir amüsieren uns zu Tode“, hat
Neil Postman einmal geschrieben. Aber wer macht sich heute noch
die Mühe, die Intellektuellen zu lesen, wo doch an der nächsten
Ecke der nächste Pokémon wartet?

Lena Kornyeyeva